Wie alles mit dem Scrabble-Sommer begann
Anfang oder Mitte der 70er Jahre pflegten meine Eltern auf unserer Terrasse zu scrabbeln. Gelegentlich schaute ich zu, wie sie Buchstabensteine auf das Spielfeld legten und Wörter bildeten. Noch heute erinnere ich mich, sie einmal gefragt zu haben, ob man denn bereits platzierte Buchstaben auch austauschen könne. Die Antwort lautete nein, trotzdem - oder deswegen- war mein Interesse an Scrabble geweckt.
In der Folgezeit durfte ich ab und zu mitspielen. Natürlich verlor ich regelmäßig mit großem Abstand. Aber Spaß muss ich dennoch gehabt haben, sonst hätte ich meine Scrabble-Karriere ja frühzeitig beendet. Wie in so vielen Haushalten damals waren auch bei uns nur Grundformen zulässig: Verben wurden nicht konjugiert, Adjektive nicht flektiert. Bei Nomen waren immerhin Pluralformen erlaubt.
Den Duden oder sonst ein Wörterbuch habe ich nie auf dem Tisch gesehen. Hier und da tauchten Namen von Flüssen und nicht allzu verbreitete Begriffe aus anderen Sprachen auf. Sehr beliebt bei meinen Eltern war YMER. An der Zulässigkeit gab es auch gar keine Zweifel, schließlich hatten wir alle das Wort bei unseren unzähligen Dänemark-Urlauben schon tausend Mal gelesen.
Gefallen finden am erweiterten Wortschatz für Scrabble
Die Jahre vergingen und Scrabble geriet in Vergessenheit. Erst als meine Mutter unser Elternhaus allein bewohnte, begannen wir wieder zu spielen. Mittlerweile zogen wir allerdings einen älteren Duden zurate – eventuell inspiriert durch Loriots „Schwanzhund“-Sequenz. MY und NY waren Standardwörter, aber auch die italienischen Solmisationssilben gehörten zum festen Vokabular. Eine markante Wende nahm unsere Spielerei zum Ende des Jahrhunderts hin. In den späten Neunzigern bestand ich darauf, auch Beugungsformen legen zu dürfen. Schließlich verdiente ich meine Brötchen mittlerweile unter anderem mit Scrabble-Rätseln. Da wollte ich nicht zweigleisig fahren und zuhause „Wilde Sau“ spielen, während ich mich bei den veröffentlichten Spielsituationen strikt an die – wenn auch schwammig formulierten – Regeln hielt.
Tatsächlich fand auch meine Mutter bald Gefallen an dem erweiterten Wortschatz. Als ehemalige Dolmetscherin und Lehrerin hatte sie einen Faible für diverse Sprachen, nun entdeckte sie die fürs Scrabblen so relevanten Schätze des Deutschen wieder: die Beugungsformen der unregelmäßigen Verben. Während wir uns zuvor mit den Umlauten abgequält hatten, genossen wir nun die ganzen SÖNNEs, RÄNNENs und LÜDEs in vollen Zügen.
Das Hobby zum Beruf machen
Zu jener Zeit waren es tatsächlich nur Brötchen und keine Brote, die meine Tätigkeit einbrachte. Ich hatte mich zur Selbstständigkeit als Rätselautor entschieden, nachdem ich meinen Job als Croupier in der hannoverschen Spielbank hatte aufgeben müssen. Und in meinen zuvor erlernten Beruf des Fotolaboranten konnte ich nicht zurück, da es keine offenen Stellen gab. Mit um die Ecke gedachten Rätseln für ein hiesiges Stadtmagazin fing alles an. Dummerweise hatte ich das Marktinteresse überschätzt. Jahrelang deckten die Einnahmen gerade so eben die Lebenshaltungskosten. Nicht selten war ich froh, wenn ich in der Sofaritze noch ein Markstück fand, um mir Zigaretten leisten zu können. Die Situation besserte sich erst, als mir die Idee kam, mein Hobby zum Beruf zu machen. Obwohl meine Akquise äußerst amateurhaft ausfiel, zeigten einige Redaktionen Interesse. Neben einer Regionalzeitung aus NRW fanden eine bundesweit erscheinende Frauenzeitschrift und die Süddeutsche Zeitung Gefallen. In der Frauenzeitschrift liefen nur sechs Probeausgaben, die Regionalzeitung druckt meine Rätsel noch immer ab – und die Süddeutsche konnte sich einfach nicht ausmären. Immer und immer wieder musste noch eine Redaktionskonferenz abgewartet und ein Statement von hier oder dort abgewartet werden. Irgendwann war ich die Nachfragerei leid und die Sache verlief im Sande.
Da kam DIE ZEIT ins Spiel. Auch sie hatte ich bei meiner ersten Werbeaktion angeschrieben. Selbstverständlich, muss ich sagen. Schließlich hatte ich den Zugang zu den anspruchsvollen Kreuzworträtseln über das dort erscheinende Werk bekommen. Und es war mein Jugendtraum, eines Tages ein Rätsel in der ZEIT zu veröffentlichen. Auf mein erstes Schreiben hin hatte Dr. Wolfgang Lechner, der zuständige Redakteur, in höchst freundlichem Ton erwidert, er fände die Idee eines Scrabble-Rätsels großartig, es gäbe nur momentan keinen Platz dafür. So versuchte ich es ein Jahr später erneut – und traute meinen Ohren nicht, als ich dem Anrufbeantworter die Nachricht entnahm, ich möge mich doch bitte in der Redaktion in Hamburg melden.
Einzige Scrabble-Regel: „Erlaubt ist, was die Grammatik zulässt.“
So erschienen im Herbst 1999 die ersten Scrabble-Aufgaben in der ZEIT. Jahrzehnte zuvor hatte ich zwar gehofft, eines Tages das Kreuzworträtsel übernehmen zu können, aber mit Scrabble auf dem Olymp für Rätselmacher zu landen, war genauso gut. Allerdings gab es noch zwei Klippen zu umschiffen. Die eine Hürde nahmen wir recht schnell. Damit alle Leser die gleichen Voraussetzungen haben, verständigten wir uns auf den damals aktuellen Rechtschreib-Duden als zugrunde zu legendes Wörterbuch. Doch eine Baustelle blieb: Das noch immer nicht allzu konkret formulierte Reglement, das aus einem einzigen Satz bestand: „Erlaubt ist, was die Grammatik zulässt.“ Dass diese Passage alles und nichts besagt, sollte sich alsbald rächen.
In einem der ersten ZEIT-Scrabble-Sommer konnte KÄUET (resp. KÄUTE) mit dreifachem Wortwert platziert werden, mit dem Ä auf einem Buchstabenwertverdopplungsfeld. Der nächstbeste Zug brachte nur ein paar Punkte weniger. Als ich am Montagmittag die Leservorschläge bekam, wurde mir schlagartig klar: Das gibt Ärger. Wolfgang Lechner - seines Zeichens Germanist - und ich schätzten das Wort als zulässig ein, zur Absicherung holten wir aber noch Rat bei der höchsten Instanz ein, der Dudenredaktion. Sie sollte schlussendlich entscheiden, ob diese Flexionsform des Verbs WIEDERKÄUEN als zulässig anzusehen oder abzulehnen ist. Nach diversen Telefonaten mit Mitarbeitern der Duden-Sprachberatung wurde die Angelegenheit offensichtlich zur Chefsache erklärt. Kein Geringer als Dr. Werner Scholze-Stubenrecht, seinerzeit Leiter der Redaktion, gab höchstpersönlich sein Plazet.
Am folgenden Donnerstag, als die ZEIT mit der neuen Spielsituation erschien, kam ich am späten Nachmittag nach Hause und bemerkte sofort, dass das Faxgerät heiß lief. Heraus kamen eine um die andere Seite mit handschriftlich notierten Namen und Telefonnummern. Die Hamburger Redaktions-Zentrale für Leserangelegenheiten hatte zig Anrufe empörter Scrabble-Sommer-Teilnehmer erhalten und allen einen Rückruf in Aussicht gestellt. Ich erinnere nicht, wie viele vollgeschriebene Seiten es insgesamt gewesen sind. Aber ich weiß noch sehr genau, dass ich von Freitagmorgen bis Sonntagabend am Telefon hing, um die Gemüter zu beruhigen. Das klappte auch bei 99 Prozent der Angerufenen. Zumal sich so gut wie alle damit zufrieden gaben, dass die Duden-Redaktion bei der Entscheidung involviert war. Nur ein Leser wollte sich partout nicht mit dem Urteil abfinden und fragte mich allen Ernstes, wie er gerichtlich dagegen vorgehen könne. Nach geschlagenen 56 Minuten des Im-Kreis-Drehens konnte ich endlich den Hörer auflegen.
Ein Scrabble-Regelwerk musste her
Die Zeit war reif für ein vernünftiges, ausformuliertes Regelwerk. Das sah auch die Firma Mattel, der Hersteller des Spieles, so. Im Zuge der Planung einer bundesweiten Scrabble-Schülermeisterschaft gründeten sieben (Scrabble-)freunde und ich den Verein „Scrabble Deutschland“, der von Mattel mit dem Recht ausgestattet wurde, ein umfangreiches Reglement zu erstellen. Kein Zweifel: Die Urfassung deckte nicht wirklich alle Zweifelsfälle, weswegen die Regeln auch heute noch gelegentlich bearbeitet werden. Doch immerhin blieben mir seither Wochenenden mit dreißigstündiger Telefoniererei erspart.
Bildquellen
Titelbild: scrabble sommer anfang, Bildrechte bei der webgilde GmbH