Uralt und doch voll im Trend: Das Lied im Mittelalter
„Corvus Corax“, „Estampie“, „In Extremo“ und „Versengold“ – Bandnamen, die für heutige Ohren fremd anmuten, die sich auf dem Musikmarkt aber dennoch größter Beliebtheit erfreuen. Sie stehen für Musikgruppen, die die Musik des Mittelalters wieder salonfähig gemacht haben. In der Tat nimmt der Hype um die Musik und die ursprünglichen Melodien und Texte des Mittelalters seit Jahren zu. Er findet sich auch in neuen Musikgattungen wie dem Mittelalter-Metal, dem Mittelalter-Folk oder dem Mittelalter-Rock (auch bekannt als „medieval rock“) wieder.
Falls ihr ebenfalls vom Mittelalter und seiner Musik fasziniert seid oder einfach nur alle Lösungen zu Liednamen im Mittelalter für euer Kreuzworträtsel sucht, bietet euch dieser Artikel einen kompakten Überblick mit vielen hilfreichen Informationen: zu den verschiedenen Liedtypen im Mittelalter, wie dem geistlichen Lied, dem Tanzlied sowie dem vom Volk gesungenen Lied im Mittelalter.
Neue Kompositionen nach altem Vorbild
Ich saz ûf eime steine - Ich sach mit mînen ougen
Zugegeben: Mittelhochdeutsche Formulierungen, wie sie in den Liedern des bekannten Minnesängers Walther von der Vogelweide zu finden sind, muten heute gewöhnungsbedürftig an. Die neuen Mittelalter-Bands übersetzen diese schönen aber sperrigen Formulierungen deshalb in die hochdeutsche Sprache, so dass sie von einem breiten Publikum verstanden werden können. Zudem übertragen sie die Themen in neue Texte und neue Kompositionen nach dem Vorbild des mittelalterlichen Liedes. Zusammen mit einem authentischen Bühnenbild und aufwendigen Kostümen lassen sie so das Lebensgefühl einer längst vergangenen Zeit im Hier und Jetzt lebendig werden.
Das Lied im Mittelalter im Überblick
Wer nach einem Überblick über die Musik des Mittelalters sucht, der sollte sich zuerst mit der Entstehungsgeschichte dieser befassen, die alle gesanglichen und instrumentalen Werke vom neunten Jahrhundert bis ins Jahr 1430 umfasst.
Diese fast 500 Jahre dauernde Epoche wird in der Musikwissenschaft in drei verschiedene Zeitabschnitte unterteilt:
- Die Zeit der einstimmigen Musik: Die Anfänge der mittelalterlichen Musik sind verhältnismäßig einfach und erstaunlich komplex zugleich. Sie finden sich im Umfeld der Kirchen und Klöster im gregorianischen Gesang, der vom neunten bis ins ausgehende zehnte Jahrhundert seine Blütezeit hatte.
- Mehrstimmige Musik: Auch die Anfänge der mehrstimmigen Musik gehen auf kirchliche Entwicklungen zurück, wie sie zum Beispiel in der Schule von Notre Dame zu finden sind. Sie umfasst aber auch die Tanz- und Instrumentalmusik des 12. und 13. Jahrhunderts.
- Ausdifferenzierung in unterschiedliche Stilrichtungen: Im späten Mittelalter (13. bis 15. Jahrhundert) etablierten sich in der Musik vielfältigere Stilrichtungen, die ihren Ursprung und ihre Blüte vor allen in Frankreich und Italien hatten. Bekannte Vertreter sind das italienische Trecento oder die französische Ars nova (übersetzt: neue Kunst), die im 14. Jahrhundert die sogenannten Ars antiqua ablöste.
Klöster als musikalische Zentren
Prägend für die Epoche des Mittelalters war vor allem die Kirche und hier vor allem die unzähligen Klöster, die als religiöse, wirtschaftliche aber eben auch musikalische Zentren der damaligen Zeit fungierten. In ihrem Chorgebet praktizierten vor allem die Mönche, aber auch manche Frauenorden, ihre Sangeskunst in kunstvollen Liedformen, die das geistliche Lied im Mittelalter entscheidend prägten.
Die bekannteste Ausprägung ist dabei zweifelsohne der gregorianische Gesang, der zunächst in der Kirchensprache Latein verfasst und gesungen wurde. Im Hochmittelalter wurde dieser jedoch auch in einzelnen Stücken in die jeweilige Landessprache, also auch in die deutsche Sprache, übersetzt.
Die prägende Gesangsform war dabei der einstimmige Choral, ein in einer Tonlage gesungenes Liedstück ohne Begleitung durch Chor oder Instrumente. Erst mit der Entfaltung der Ars nova wurde dieser einstimmige Chorgesang zunehmend stärker von mehrstimmigen Kompositionen abgelöst. Der Musikstil des gregorianischen Gesangs wird bis heute in vielen Klöstern gepflegt.
Von der Gregorianik zur Mehrstimmigkeit
Wer Melodien komponieren, in Harmonien arrangieren und mit Texten verbinden möchte, der ist auf ein verlässliches Regelwerk angewiesen, das das Zusammenspiel der einzelnen Töne ordnet und entsprechende Tonlängen definiert. Eine solche Notenlehre musste jedoch erst entwickelt werden.
Eine wichtige Persönlichkeit in diesem Zusammenhang war Papst Gregor I., auch Gregor der Große genannt, der bereits im sechsten Jahrhundert die römische Schola cantorum gründete, das System der Kirchentonarten vollendete und die Plagaltonarten (darunter versteht man abgeleitete Tonvarianten) in die bereits bekannten Ambrosianischen Tonarten integrierte.
Zu nennen ist aber auch der Mönch und Musikgelehrte Hucbald von Saint-Amand, auch genannt „Hucbald der Kahlkopf“, der zu Beginn des zehnten Jahrhunderts wichtige musiktheoretische Werke verfasste, sowie der zum Benediktinerorden gehörende Mönch Guido von Arezzo, der als Erfinder der heute noch gültigen Notenschrift beziehungsweise Notation gilt.
An Bedeutung gewann das Lied im Mittelalter vor allen durch die Entstehung der Mehrstimmigkeit. Ausgangspunkt waren auch hier die Klöster und der sakrale Gesang, wo sich zunächst die Gattungen des Conductus, einer Art Begleitgesang mit der der Hauptakteur begleitet wurde, und des Organum, das als erste Mehrstimmigkeit des Abendlandes gilt, entwickelten. Wichtige Komponisten dieser mittelalterlichen Liedergattungen waren die französischen Komponisten Léonin und Pérotin, die beide als wichtige Vertreter der Schule von Notré Dame gelten.
Im Volk etablierte sich das geistliche Lied im Mittelalter vor allem durch einfache Antwortgesänge für die ganze Gemeinde während der Messe, wie beispielsweise die LEIS oder LEISE, deren Name sich auf die Endung des Liedrufes „Kyrieleis“ (bzw. „Kyrie eleison“; übersetzt „Herr erbarme dich“) bezieht.
Mehr als Kitsch und Herzschmerz: Der Minnegesang
Der MINNEGESANG, der häufig mit dem hartnäckigen Klischee eines mit der Laute vor der holden Maid knienden und Kitschverse dahinschmachtenden Barden zu kämpfen hat, beschreibt ein weiteres, durchaus komplexes Phänomen des Liedes im Mittelalter. Er wurde meist von Trobadoren (auch Troubadouren) im Umfeld der verschiedenen europäischen Herrscher und ihrer Höfe vorgetragen. Textlich handelte es sich beim Minnegesang vor allem um Liebeslieder, Heldensagen und Tanzlieder. Die Sänger verwendeten fast ausschließlich die altokzitanische Literatursprache, die zu den vor allem im südfranzösischen Kulturraum gesprochenen galloromanischen Sprachen zählt. Als Hauptvertreter dieser Vortragsform und erster Vertreter dieser Gattung gilt Wilhelm IX., Herzog von Aquitanien im 11. und 12. Jahrhundert und ein ausgesprochener Lebemann.
Auch die historische südfranzösische Provinz Gascogne ist für ihren Minnegesang bekannt. Später gaben die Trobadore (die in französischer Sprache auch Trouvères hießen) ihre mittelalterlichen Lieder auch in der Normandie sowie am englischen Königshof in altfranzösischer beziehungsweise altnormannischer Sprache zum Besten. An den alemannischen und fränkischen Höfen wurde das Lied der Minnesänger in mittelhochdeutscher Sprache vorgetragen.
In Deutschland gab es eine ganze Reihe auch heute noch bekannter Minnesänger, die diesem Liedtyp im Mittelalter zu großer Bekanntheit verhalfen. Als bekannte Vertreter können beispielsweise Dietmar von Aist, Heinrich von Veldecke, Hartmann von Aue, Heinrich von Morungen oder Walther von der Vogelweide genannt werden, aber auch Wolfram von Eschenbach, Friedrich II., Otto von Botenlauben, Burkhart von Hohenfels, der Tannhäuser, Ulrich von Liechtenstein, Konrad von Würzburg, Hugo von Montfort, Oswald von Wolkenstein sowie der anonym arbeitende Mönch von Salzburg.
Ein im Kontext des Minnesangs weit verbreiteter Begriff ist auch die sog. hohe Minne, die ihren Ursprung darin hat, dass der Minnegesang in verschiedene Gattungen unterteilt wurde:
- Minnesang im klassischen Sinn: Beim klassischen Minnegesang wurden Frauen in einer romantischen und idealisierenden Weise besungen.
- Die Hohe Minne: Der Gesang der hohen Minne widmet sich der Unerreichbarkeit einer begehrten Frau, deren Besonderheit facettenreich dargestellt wird.
- Die Niedere Minne: Sie bildet gewissermaßen den Kontrast zur hohen Minne, da sie in ihren Texten schildert, dass die besungene Frau nicht unerreichbar ist und ihr Herz tatsächlich gewonnen werden kann.
Als wichtigste Vertreter dieser Gattungen gelten die Minnegesänge zur ehelichen Liebe von Wolfram von Eschenbach, die Infragestellung des übertriebenen Frauenkultes in den Gesängen des Sängers Walther von der Vogelweide und die als Frauenlob bekannten Minnegesänge Heinrichs von Meißen.
Der Siegeszug des weltlichen Liedgutes
Mit der Etablierung des mehrstimmigen Tonsatzes trat das weltliche Lied seinen Siegeszug auch außerhalb von Kloster- und Burgmauern an. Dabei wurde der VOLKSGESANG vor allem von Kontrapunktisten etabliert, bei denen die korrekte und schulgerechte Verbindung der einzelnen Töne besonders im Fokus stand. Die Entstehung des Volksgesanges mit all seinen Stilrichtungen war dabei neben dem gewöhnlichen Alltag vor allem durch die Entwicklung der Vulgärsprache des Volkes und die Erfahrungen der Kreuzzüge geprägt, deren Leiden und Gräueltaten im europäischen Raum in vielfältigen literarischen und musikalischen Werken dargestellt wurden.
Einige Musikgattungen waren dabei besonders weit verbreitet:
- Der MINNESANG: Eine idealistische Gesangsform, die vor allem an den europäischen Höfen vorgetragen wurde.
- Das TAGELIED: Eine Form des Wächter- und Abschiedslieds, die in der Regel das heimliche Zusammensein zweier Liebender in einer gemeinsamen Liebesnacht und den Abschied zu Tagesanbruch zum Thema hat.
- Der LEICH / die LAI: Ein zunächst religiös geprägter, später aber auch im weltlichen Kontext anzutreffender Minnesang mit lyrischem Charakter
- Der SPRUCH: Eine Liedform, die vor allem politische oder sozialkritische Themen aufgriff.
- Der MEISTERGESANG: Ein Gesang, der von zunftartigen Zusammenschlüssen von Bruderschaften und Gesangsschulen bürgerlicher Dichter und Sänger gepflegt wurde.
Vom Teufelswerk zu den Gildentänzen – der Volkstanz entsteht
Im Gegensatz zu allen anderen Gesängen brauchte das TANZLIED im Mittelalter eine lange Zeit, bis es Anklang in der Bevölkerung finden konnte. Grund dafür war der enorme Einfluss der Kirche, die sich lange gegen den Tanz außerhalb der Liturgie und des gottesdienstlichen Raumes wehrte und diesen als heidnisch und sündhaft, ja sogar als Teufelswerk darstellte.
Ein Besuch von Discotheken oder Clubs, wie wir dies heute kennen, wäre zur damaligen Zeit – ganz abgesehen vom andersartigen Musikstil und der fehlenden Elektronik – also völlig undenkbar gewesen. Dennoch gewann der rein weltliche Tanz zunehmend an Bedeutung.
Dabei war das Tanzlied im Mittelalter vor allem durch eine langsame und getragene Melodie geprägt. Getanzt wurde zunächst in Formationstänzen für die ganze Gruppe.
Erst später kamen weitere, Lied- und Tanzformen hinzu, zum Beispiel auch der erotisch anmutende Sprungtanz, den man als Einzeltanz aufführte. Darüber hinaus entwickelten sich auch Tänze für das gemeine Volk, sowie Bauern- und Bürgertänze und Tanzformen, die von bestimmten Berufsgruppen getanzt wurden, wie zum Beispiel der Fahnentanz der Tuchmacher oder der Schwerttanz der Schmiedehandwerker.
Als begleitende Instrumente für die Tanzlieder im Mittelalter kamen vor allem Flöten, Tröten oder Trommeln zum Einsatz.
Eine äußerst kunstvolle Form des Tanzliedes etablierte sich im sogenannten RONDEAU (auch „Rundgesang“ oder RONDO genannt), einer gereimten Liedform, die aus zwei sich wiederholenden Teilen arrangiert wurde.
Von der Kirche in die Tanzstuben
Zusammenfassend zeigt sich, dass der Gesang im Mittelalter zunächst im kirchlichen Kontext als eine Form des Gotteslobes entwickelt wurde, jedoch nach und nach immer mehr weltliche Einflüsse erhielt. So entstanden neben dem Kirchenlied im Mittelalter auch Musikstücke, die von Helden erzählten, die Schönheit der Frau besangen, die menschliche und auch erotische Liebe thematisierten oder einfach nur zum Tanzen animierten. Zudem entwickelten sich auch politisch motivierte Werke, die auf Missstände hinweisen oder Kritik an den Herrschenden übten. Somit dienten die Lieder des Mittelalters ähnlich wie unsere Lieder heute, als eine musikalische Brücke, über die die Sänger Erfahrungen und Denkanstöße an die Zuhörer weiterreichten oder ihnen schlichtweg Freude und Vergnügen bereiten wollten.
Die Bedeutung des Liedes im Mittelalter wuchs vor allem mit dessen Verständlichkeit, als Liedstücke nicht mehr nur im von den Gelehrten gesprochen Latein verfasst wurden, sondern in der Sprache des gemeinen Volkes. So entstanden immer mehr Inhalte, mit denen auch Bauern, Kaufleute, Handwerker und Menschen aus dem normalen Volk etwas anfangen konnten. Der Weg zum VOLKSLIED war bereitet.
Bildnachweise
Titelbild via getstencil für 1337 UGC GmbH
1. Bild - Corvus Corax von Christian Ermel, CC BY-SA 4.0 via Wikimedia Commons; https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Corvus_Corax_Band_2017.jpg
2. Bild- Kreuzgang Dom zu Naumburg von Necrophorus, CC BY-SA 3.0 via Wikimedia Commons; https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Naumburger_Dom_4.jpg
3. Bild - Minesängerbalkon von Kadereit, CC BY-SA 3.0 via Wikimedia Commons; https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Minnes%C3%A4ngerbalkon.JPG
4. Bild - Master of the Codex Manesse, Public Domain via Wikimedia Commons; https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Codex_Manesse_Walther_von_der_Vogelweide.jpg
5. Bild - Kinderreigen von 1872 von Hans Thoma, Public Domain via Wikimedia Commons; https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Hans_Thoma_-_Kinderreigen_(1872).jpg