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Neudeutsch und Good Old Walther

erstellt am von  in  Wortkolumne 

„Wenn das so weitergeht, müssen wir in ein paar Jahren „Deutsch als Fremdsprache“ in den Schulen anbieten.“ Dieses Schreckensszenario beschreibt ein erzürnter Zeitungsleser in einem Online-Kommentar. Der betroffene Beitrag ist voll von neudeutschen Begriffen. Es wird „geshoppt“ anstatt eingekauft und „relaxt“ anstatt ausgeruht.

Ich gebe zu, dass dieses Neudeutsch auch mir manchmal auf die Nerven geht. Ich erinnere mich gut an Szenen aus deutschen Castingshows wie Germanys next Topmodel, in denen Teilnehmern erklärt wird, dass sie keine Personality hätten, ihre Performance nicht gut sei und am Ende steht ein aufstrebendes Model da und verzweifelt, weil sie keine Handtasche hat, um Competition zu machen.

In solch grotesken Momenten möchte auch ich protestieren, doch irgendwie fehlen mir die Worte. Vielleicht fehlt mir auch die Personality, um das zu verstehen?

Was hätte Walther von der Vogelweide dazu gesagt?

Dem Drang gegen das Neudeutsch zu protestieren gebe ich jedoch nach, stöbere stattdessen in der Geschichte der deutschen Literatur und treffe auf den mittelalterlichen Dichter Walther von der Vogelweide.

 Warum fasst sich Walther von der Vogelweide hier an den Kopf? Ärgert er sich über Neudeutsch?

Seit eh und je ist es ein Anliegen der Dichter, den besonderen Reiz der Damen in Worte zu fassen. Walther von der Vogelweide hätte zum Thema Germanys next Topmodel wahrscheinlich Folgendes gesagt:

Von der Elbe unz an den Rîn

und her wider unz an Ungerlant

mugen wol die besten sîn,

die ich in der werlte hân erkant.

kan ich rehte schouwen

guot gelâz unt lîp,

sem mir got, sô swüere ich wol, daz hie diu wîp

bezzer sint danne ander frouwen.

(Quelle: Gutenberg-Projekt)

Was aussieht wie ein Haufen Fremdwörter ist reinstes Mittelhochdeutsch aus dem 13. Jahrhundert. Nur hat unsere Sprache seitdem einige Veränderungen erlebt. "Lîp" zum Beispiel ist der Leib und "Wîp" das Weib. Zur Sprachveränderung gehörte damals, wie heute, auch die Übernahme von Wörtern aus anderen Sprachen in die eigene. Heute bürgern wir viele Begriffe aus dem Englischen bei uns ein, im 13. Jahrhundert waren es Wörter aus dem Polnischen (z.B. die "Grenze" von "granica") und Französischen (z.B. das "Abenteuer" von "aventure").

Nun möchte ich aber endlich auflösen, was die kryptischen Zeilen von Herrn Vogelweide mit der Model-Castingshow zu tun haben. Laut Wikipedia-Übersetzung schwört der Dichter bei Gott, dass ihm auf all seinen Reisen nirgendwo eine Frau unterkam, deren Benehmen und Äußeres mit dem einer deutschen Frau mithalten kann. Folglich sind alle deutschen Frauen Topmodels, auch ohne aufwendige Handtaschen-Competition. Zur Untermauerung seiner These verzichtete er auf die Begriffe „Performance“ und „Personality“. Stattdessen benutzte er eine Menge anderer Wörter, die beim heutigen Leser den Eindruck erwecken, dass er einen „Deutsch als Fremdsprache“-Kurs belegen müsste, um diesen „urdeutschen“ Dichter zu verstehen.

Neudeutsch ist relativ

Sprache lebt, weil sie benutzt wird. Was Neu- oder Altdeutsch ist, was richtig und falsch, das hängt zu einem gewissen Grade auch vom Standpunkt des Betrachters ab. Und für den Scrabblespieler ist es doch nur von Vorteil, dass es so viele alte und neue Wörter gibt! Wer weiß, vielleicht bekommen wir in Zukunft mehr Lehnwörter aus dem Türkischen. Vielleicht braucht man in ein paar Jahrhunderten ein Spezialwörterbuch, um diese Kolumne zu verstehen. Das wäre aber ganz normal. Frag Good Old Walther!

Bildquellen

  • Walther von der Vogelweide: http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/cpg848/0243 Digitale Bibliothek Heidelberg